Apostroph

Rote Liste bedrohter Arten

Der Apostroph



Ein Aufruf zum Schutz eines unschuldig verfolgten Wesens in zwei Teilen:

I. Rettet den Apostrophen ...
II. ... aber nur dort, wo er hingehört


I. Rettet den Apostrophen ...

Das Aussterben von Arten geht oft leise und unbemerkt vor sich, und so vollzieht sich seit einigen Jahren ein Drama, das bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde. Greifen wir ein, bevor es zu spät ist, bevor das letzte authentische Exemplar eines durchaus nützlichen und einst weit verbreiteten Geschöpfs das Zeitliche segnet: der Apostroph.

Das größte Problem des Apostrophs ist wohl, daß er zu wenig bekannt ist und darum leicht verwechselt wird. Deshalb zunächst eine morphologische Bestimmung: Der Apostroph sieht - populär gesagt - recht ähnlich aus wie das allseits verbreitete Komma, nur daß sein Lebensraum quasi eine Etage höher angesiedelt ist.

Zum Vergleich:

, (Komma)     ' (Einfacher Apostroph) [1]     (Typographischer Apostroph)

Zwar hat der Apostroph meistens eine vertikale Keulenform, doch gibt auch Varietäten in eingerollter Gestalt, so daß er sich tatsächlich nur im Standort vom Komma unterscheidet.

Um jede Verwechslung auszuschließen, sei auch die genaue Definition des Apostrophs angeführt, die ihn, je nach verwendeter Nomenklatur, eindeutig so benennt:

<Shift> + #
<Alt> + 39
&#39;

<Alt> + 0146
&#8217;
&rsquo;

Wohlgemerkt: alle irgendwie ähnlich aussehenden Arten, die nicht einer dieser Klassifikationen entsprechen, sind keine Apostrophe!

Und hier beginnt das Problem: Seit Jahren schleichen sich unbemerkt zwei auf den ersten Blick vergleichbare Lebensformen in das angestammte Territorium des Apostrophs ein und haben ihn bereits fast vollständig daraus verdrängt. Gemeint sind:

Der Akut (Accent aigu) und der Gravis (Accent grave), beide zur Gattung der Akzente gehörig.

Und das sind die kleinen Übeltäter (in starker Vergrößerung):

´ (Akut)     ` (Gravis)

Auf den ersten Blick wirken sie ja eher harmlos, doch sieht man sie als Eindringlinge in einer ihnen fremden Umwelt, wird die Gefahr deutlich:

So wird aus der klassischen Symbiose:

Goethe'sche Werke

durch den schädlichen Einfluß von Akut bzw. Gravis:

Goethe´sche Werke oder gar Goethe`sche Werke

Beide Formen sind aber definitiv neophytische Fehlentwicklungen!

Denn ursprünglich kommen Akut und Gravis nur in ganz bestimmter Umgebung, in fester Beziehung zu anderen Wesen vor, wie folgende, durchaus richtige Beispiele zeigen:

Bouclé oder Frappé oder Città

Daß Akut und Gravis so ohne weiteres die ihnen fremde Rolle des Apostrophs übernehmen konnten, ist gar nicht so leicht zu erklären, da beide eigentlich eher im Verborgenen angesiedelt sind (nämlich in einem abgelegen Tastenareal inmitten von obskuren Arten namens Backslash, Backspace und Asterisk). Ihre exotische Fremdartigkeit belegt auch die im Vergleich zum Apostroph kompliziertere Systematik:

Einfacher Apostroph: [1]
<Shift> + #
<Alt> + 39
&#39;
Typographischer Apostroph:

<Alt> + 0146
&#8217;
&rsquo;
Akut:
´ + <Space>
<Alt> + 0180
&#180;
&acute;
Gravis:
<Shift> + ´ + <Space>
<Alt> + 96
&#96;

Der Hauptgrund für das bedrohliche überhandnehmen von Akut und Gravis scheint der Einfluß des Menschen zu sein, genauer gesagt der des Homo typographus analphabeticus. Diese äußerst virulente menschliche Spezies hat offenbar die beiden Akzente aus ihrem Tastatur-Versteck aufgescheucht und verbreitet sie - trotz ständig drohender Sehnenscheidenentzündung - seit Jahren unwissentlich oder mutwillig in der ökologischen Nische des Apostrophs, der damit unweigerlich dem Untergang geweiht ist.

Dieser Entwicklung gilt es Einhalt zu gewähren! Deshalb:

Rettet den Apostrophen ...


II. ... aber nur dort, wo er hingehört!

Wie wir gesehen haben, ist der Apostroph zwar eine von eingeschleppten Neophyten bedrohte Lebensform, doch hat er sich seinerseits Refugien erobert, in denen er völlig fehl am Platze ist. Dazu muß man sich vergegenwärtigen, daß der Apostroph kein autonomes Lebewesen ist, sondern nur in Symbiose mit anderen existieren kann. Ja, er nimmt quasi ersatzweise die Stellung verdrängter Formen ein, weshalb er im Volksmund gelegentlich noch "Auslassungszeichen" genannt wird.

Daraus ergibt sich aber auch die Grundregel, daß der Apostroph nur dort seine Existenzberechtigung hat, wo tatsächlich etwas verdrängt oder ausgelassen wurde:

Ich hör' ja zu, aber wissen S': das is' 'n Quatsch!

In vielen Fällen haben jedoch die Mitbewohner des Apostrophs den eingedrungenen Platzhalter längst wieder aus ihrer Mitte vertrieben (auch wenn manche ihn irrtülich dort noch vermuten):

Rein, raus, runter, rauf, fürs, vom, übern, unterm, hinters, ins, zum, zur

Wenn der Apostroph sich in solchen Fällen also noch breitmachen sollte, hilft nur noch ein adäquates Typizid (wie etwa Tipp-Ex oder ShiftCtrlEndDelete).

Besonders hartnäckig hält sich der Apostroph als Neusiedler im Biotop genitivischer Anglizismen:

Fred Feuerstein's Wilma's Waschmaschine

Doch auch dort hat er nichts zu suchen, außer ganz am Rande neben zischenden Kreaturen:

Pfarrers Kinder, Lehrers Vieh, Müllers Büro
Aristoteles' Amsel, Ringelnatz' Natter, Xox' Kekse

Aber so leicht läßt sich ein bedrohtes Wesen eben nicht in Schranken halten. Ist es da verwunderlich, wenn es aus Notwehr besonders gern im dialektalen oder gastronomischen Bereich sein Unwesen treibt?

Wies'n, Kurv'n, Stub'n, Woch'nblatt, Schneider'lein, Gyro's

... und so weiter und so fort - trotz gelegentlicher grammatikalischer Korrektheit wäre hier eigentlich optisches Schmerzensgeld angebracht!

Weitere abschreckende Beispiele für irregeleitete Apostrophe finden sich hier:

Wie man sieht, ist es mit einem konsequenten Artenschutz nicht getan, um Geschöpfen wie dem Apostroph das geregelte Weiterleben zu ermöglichen. Eine unkontrollierte Auswilderung ist ebenfalls schädlich, denn ein zu hoher Bestand im falschen Territorium verleidet uns letztlich die Freude an diesem possierlichen Tierchen.

Gebt also dem Apostrophen sein Recht - aber auch nicht mehr!


[1] Anmerkung für DTP-Profis, Schriftsetzer und andere Besserwisser: Ja, mir ist klar, daß das '-Zeichen (U+0027) nur einen minderwertigen Ersatz für den einzig wahren Apostrophen (U+2019) darstellt. Allerdings ist es keineswegs "falsch", es zu benutzen: siehe Apostroph - Wikipedia. Und weil wir schon dabei sind: ' ist auch bloß ein Ersatz für das "richtige" Minutenzeichen (U+2032): siehe Gradzeichen - Wikipedia. (Uff, das mußte mal gesagt werden. ;-))


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Zuletzt bearbeitet am 6.2.2009 von © Werner Schwarz - Es gilt das Urheberrecht!