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Internierungslager: Die Evangelische Lagergemeinde


Inhalt

Quelle:
Klaus von Eickstedt: Christus unter Internierten. Neuendettelsau: Freimund-Verlag 1948.

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des © Freimund-Verlags.

Christus unter Internierten

von Dr. Klaus von Eickstedt

Die Schuldfrage

Eine Frage, die außerordentlich lebhaft, ja leidenschaftlich im Lager diskutiert wurde, war die „Schuldfrage“. Die Schuldfrage wurde zum Stein des Anstoßes, sie wurde zum Ausgangspunkt kirchenfeindlicher Propaganda der antichristlichen Kreise im Lager, wurde geradezu das Signal zum Angriff gegen die evangelische Gemeinde. Die Lage war für uns nicht leicht, denn nur bruchstücksweise kamen Nachrichten und aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen über die Schuldfrage in das Lager. Plötzlich ging es wie ein Lauffeuer durch das Lager, daß Pastor Niemöller vor aller Welt die „Alleinschuld Deutschlands am Kriege“ bekannt habe! Beschwichtigende Erklärungen unsererseits, daß das völlig ausgeschlossen sei, daß hier offenbar Mißverständnisse oder böswillige Verdrehungen vorlägen, fruchteten zunächst nichts. Erschreckend kam die Verhärtung und Oberflächlichkeit der Menschen just bei der Behandlung der Schuldfrage zutage. Es war überhaupt unmöglich, mit Nichtchristen von Schuld zu sprechen, weder von der persönlichen Schuld des Einzelnen, geschweige denn von Schuld einer Gruppe, einer Partei, der Regierung oder gar des Volkes. Kameraden im Lager, die auf Grund ihrer früheren Stellung in der Partei zweifellos mit verantwortlich waren für das, was sich in Deutschland im Laufe der letzten Jahre ereignet hatte, die ohne Frage Mitwisser vieler Vorgänge, die jetzt vertuscht wurden, gewesen waren, sie betrachteten sich auf einmal als die Opfer einer Führung, die ursprünglich von reinstem Willen beseelt, durch Sabotage, Verrat, Untreue, gelegentlich auch Unfähigkeit Einzelner, geschwächt und zerrieben worden sei. Hinzu kam die, besonders unter den jüngeren SS-Leuten hartnäckig verfochtene These eines zweiten „Dolchstoß von hinten“ in den Rücken unserer siegenden Front. So wurde auch der 20. Juli immer wieder für den deutschen Zusammenbruch verantwortlich gemacht und behauptet, daß der von langer Hand vorbereitete Verrat der Generäle, des Generalstabs und sonstiger Reaktionäre Schuld an dem Zusammenbruch sei. Auch die Kirche sei an diesen Vorgängen nicht unbeteiligt gewesen! Ja man hörte sogar die Meinung, der Krieg sei verloren worden, weil man nicht rechtzeitig und nicht radikal genug mit allen Widersachern des Dritten Reiches aufgeräumt habe. Wir waren oft versucht zu sagen: „Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“, doch damit war ja nichts getan. Die Gründe einer solchen Haltung lagen ja tiefer, meistens in dem vielfach unbewußten Bestreben der Selbstrechtfertigung und Selbstbehauptung. So war dieses Festhalten wider besseres Wissen und Gewissen der letzte Halt dieser Menschen vor völliger, im totalen Nichts endender Preisgabe. Wir hatten im Lager genügend ehemalige höhere Offiziere und Beamte, die auf Grund von Einblicken, die sie persönlich an entscheidenden Stellen der Kriegs- und Staatsführung gewonnen hatten, die ganze Haltlosigkeit der „Dolchstoßlegende“ zu beweisen in der Lage waren. Solche Versuche fruchteten aber nichts, weil man im Grunde sachliche Argumente gar nicht hören wollte.

Nun war die „Schuldfrage“ für diese Kreise der erwünschte Anlaß, ihren aufgespeicherten Groll los zu werden. Aber auch in unseren Reihen, das muß gesagt werden, wurden einzelne Männer nervös und flüsterten: „Sollte das Niemöller wirklich gesagt haben, dann werde ich irre an der Leitung unserer Kirche.“ In diese gespannte Atmosphäre kam nun endlich der Wortlaut der Stuttgarter Erklärung vom Oktober 1945. Endlich lag das ersehnte authentische Dokument vor und zeigte in der Tat, daß Niemöller nicht im Namen des deutschen Volkes von der Alleinschuld am Kriege gesprochen, sondern die Kirche, vertreten durch den Rat der evangelischen Kirche in Deutschland, für sich erklärt habe, daß sie, wie sie in der Gemeinschaft des Leidens mit ihrem Volk stände, so auch in der Solidarität der Schuld. Diese Erklärung machte auf alle vernünftigen und besonnenen Elemente im Lager doch Eindruck, weil man anerkennen mußte, daß dieses Wort der evangelischen Kirche vornehmer und anständiger war, als wenn man sich hochmütig von allem distanziert hätte. Vor allem vernahm unsere Gemeinde mit Ernst und Ergriffenheit den Bußruf der Stuttgarter Erklärung, als gesagt wurde: „Wir klagen uns an, daß wir nicht mutig genug bekannt, nicht treu genug gebetet, nicht fröhlich genug geglaubt und nicht brennend genug geliebt haben! Nun soll in unserer Kirche ein neuer Anfang gemacht werden.“ Zu diesem Anfang war die Lagergemeinde aus tiefstem Herzen bereit. Die Stuttgarter Erklärung wurde nicht nur von den Kanzeln verlesen, sondern von unserem Lagerpfarrer in einem besonderen Vortrag ausgelegt. So trat zwar in unseren Reihen eine Beruhigung derer ein, die nervös geworden waren, aber unsere Gegner im Lager lehnten selbstverständlich alle derartigen Erklärungen von vorneherein ab. Vielleicht kam hinzu, daß die Sprache der Christen weitgehend nicht mehr verstanden wurde - eine betrübliche Feststellung, die wir öfter im Lager machen mußten, wir trugen nicht leicht daran! In dem Bemühen, die Schuldfrage nicht nur äußerlich zu behandeln, sondern geistlich und geistig zu verarbeiten und auszudeuten, hielt Pfarrer Rott eine viel beachtete Predigt über „Kain und Abel“. In dieser Predigt sprach er von dem „Brudermord“ im kleinen und im großen, im Laufe der Geschichte und in unserer Gegenwart. Das machte Eindruck! Er wurde weithin verstanden! Eine wesentliche Hilfe von außen erhielt in der Zeit dieser Auseinandersetzungen unsere junge Gemeinde durch den ersten Besuch eines Vertreters der bayerischen Landeskirche. Immerhin hatte es bis zum 20. Februar 1946 gedauert, bis ein Abgesandter der bayerischen Landeskirche den Zutritt zum Lager erhielt und wir waren hocherfreut, daß Oberkirchenrat Daumiller aus München erschien und einen großen Gottesdienst hielt. Seine erste Predigt im Lager vor etwa 3000 Kameraden war schon ein besonderes Ereignis! Auch er faßte beherzt das heiße Eisen der „Schuldfrage“ an, und legte sie vom Kreuz Christi her in ihrem konkreten Bezug auf „Dachau“ vor uns allen klar. Dann hatten wir noch Gelegenheit, im Kirchenrat ausführlich OKR Daumiller über unsere Sorgen und Wünsche zu sprechen und von unserem Gemeindeleben im einzelnen zu berichten. Das hatte zur Folge, daß die Hilfe der bayerischen Landeskirche für uns Internierte nun immer wirksamer und spürbarer wurde und er selbst des öfteren ein hochgeschätzter und lieber Gast in unserer Lagergemeinde war, der, das durften wir mehrfach erfahren, sich mit Nachdruck bemühte, die unzähligen kleinen Wünsche zu erfüllen, die unsere Kameraden jeweils beim Verlassen des Lagers ihm mit auf den Weg gaben.

Nachdem nun im Lager eine gewisse Beruhigung der Gemüter eingetreten war, wurde die Situation plötzlich wieder kritisch, als nämlich unser Lagerpfarrer Rott und kurz darauf Pfarrer Schneider aus dem Lager entlassen wurden. Wir hatten zwar die bayerische Landeskirche schon Wochen vorher auf die mögliche Entlassung unserer Pfarrer hingewiesen und gebeten, für diesen Fall sofort einen neuen Lagerpfarrer in die Gemeinde zu entsenden. Diese Bitte wurde nun leider nicht erfüllt, und so war die Gemeinde plötzlich ohne Hirten. Der Abschied unserer Pfarrer wurde für uns alle ein tiefbewegendes Ereignis. Wieviel hatten wir alle unserem Freund und Bruder Rott zu verdanken! Ein großer Abschiedsgottesdienst versammelte noch einmal alle Kameraden zu einer letzten, gemeinsamen Feier mit ihm. Nach einer Aussegnung durch Pfarrer Schneider durfte ich als damaliger Senior der Gemeinde ihm für Opfer und Einsatz danken und ihn für alle Brüder umarmen. Eine ungewöhnliche Ergriffenheit lag in diesem Augenblick über der Gemeinde, für deren Werden und Wachsen er ein gnadenvolles Werkzeug Gottes gewesen war. Als er am nächsten Morgen das Lagertor mit letztem Gruß und Wink verließ, stimmte die Kerngemeinde, die ihn bis an den Stacheldraht begleitet hatte, spontan den Gesang „Ein feste Burg ist unser Gott“ an.

Wir ahnten damals nicht, daß bereits nach etwa drei Wochen auch der zweite Lagerpfarrer entlassen werden würde. So groß unsere Freude war, daß nun auch ihm die Freiheit winkte, so groß war anfänglich unsere Bestürzung, daß wir nun verwaist waren! Auch er wurde in einem feierlichen Gottesdienst ausgesegnet und gleichzeitig erfolgte meine Einsegnung als künftiger Lagergeistlicher. Ich war mir wohl bewußt, was damit auf meine Schultern gelegt wurde, hatte ich doch nie früher, abgesehen von den Andachten und Vorträgen, die ich im Internierungslager selbst halten durfte, mit dem Worte gedient! Doch was blieb in dieser Lage anderes übrig, verwaisen durfte unsere Gemeinde niemals. Die Tatsache, daß nun ein leibhaftiger Laie die Leitung der evangelischen Lagergemeinde übernahm und auch die großen Gottesdienste wie bisher fortgeführt wurden, wurde weithin beachtet und besprochen, vor allen Dingen in katholischen Kreisen, die etwas Derartiges nicht kannten. Die Zahl der Gottesdienstbesucher nahm nicht ab, im Gegenteil, Neugierde und Sensationslust trieb manchen in die Kirchbaracke hinein, der für gewöhnlich nicht zu kommen pflegte.

Nun aber regten sich auch unsere Gegner wieder. Jetzt glaubten sie den Augenblick gekommen, wieder angreifen zu können. Äußerer Anlaß dafür waren Äußerungen, die wiederum Pastor Niemöller vor Erlanger Studenten getan haben sollte, die offenbar in derselben Richtung lagen, wie die seinerzeit aufgestellten Behauptungen. Da wurde ich nun von meinen Freunden bestürmt, den Stier bei den Hörnern zu packen und durch einen öffentlichen Vortrag eine Auseinandersetzung herbeizuführen. Das geschah in der Weise, daß, umrahmt von Chor- und Kammermusik, ein Vortrag von mir angekündigt wurde mit dem Thema „Martin Niemöller“. Ich konnte diesen Vortrag wagen, weil einige Unterlagen dafür vorlagen, nämlich einmal Niemöllers Buch „Vom U-Boot zur Kanzel“, sodann befand sich im Lager ein ehemaliger Oberst und Ritterkreuzträger, der in Dachau mit Pastor Niemöller im KZ gewesen war, dann mit ihm nach Auflösung von Dachau mit dem Rest der Häftlinge in das Pustertal in Tirol mitgeführt wurde und schließlich mit ihm die Freilassung erlebte. Schließlich war in das Lager ein Vortrag von Prof. Thielicke über die Schuldfrage, in dem er sich mit Barth auseinandersetzte, geschickt worden. So lag wenigstens genügend Material vor, um daraus ein Bild dieses Mannes, seiner Haltung und seines Wirkens zu gestalten.

Ehe dieser Vortrag gehalten wurde, ereignete sich noch ein für die Stimmung im Lager bemerkenswerter Zwischenfall. Auf dem wie üblich von Künstlerhand entworfenen Plakat, das den Vortrag ankündigte, war in der dem Vortrag vorangehenden Nacht über den Namen „Martin Niemöller“ ein großes „Pfui“ gemalt worden. Das gab eine Sensation, für mich aber war es ein Wink, daß ein solcher Vortrag unter allen Umständen nötig war und gewagt werden mußte. Durch den Vortrag, der in überfüllter Baracke gehalten und noch einmal wiederholt werden mußte, gelang es doch immerhin, den vielen bayerischen Kameraden, die so gut wie nichts von Niemöller gehört hatten, ein Lebensbild dieses Mannes zu zeichnen und die Überzeugung beizubringen, daß die Evangelische Kirche in Deutschland recht daran tat, einen solchen Mann in die Leitung zu berufen. Bei der Behandlung der Schuldfrage im Rahmen dieses Vortrags kam es vornehmlich darauf an, allen Hörern einzuhämmern, daß jeder einzelne, wer es auch immer sei und wo er stand, für seine Person schuldig vor Gott geworden ist! Ein solcher Bußruf wurde wohl verstanden. Grundsätzliche Auseinandersetzungen mit einem führenden Katholiken im Lager, die nach dem Vortrag erfolgten, zeigten, daß eine Einbeziehung der Kirche unter die Schuld wohl von evangelischer Seite möglich, doch von seiten der katholischen Kirche aus dogmatischen Gründen nicht anerkannt werden könne. Es war für uns interessant festzustellen, daß die „Schuldfrage“ als ein vornehmlicher Bußruf an alle evangelischen Christen seitens der katholischen Lagergemeinde nicht in dem Maße für erforderlich erachtet wurde. Nach diesem Vortrag wurde es stiller um die Schuldfrage.

Nach drei Wochen seit meiner Amtsübernahme erhielt auch ich plötzlich die erfreuliche Mitteilung, daß ich aus dem Lager entlassen sei. Nun trat wieder dieselbe Situation ein, daß ebenfalls noch einmal ein Laie in das Amt des Lagergeistlichen eingewiesen werden mußte. Wiederum wurde der neue Senior, Bruder Georg Aupperle, mit einem feierlichen Gottesdienste, in dem ich verabschiedet wurde, in sein neues Amt durch Handauflegung eingesegnet. Er hat dieses Amt nur kurze Zeit führen brauchen, denn mit einer größeren Menge neuer Internierter, die aus einem anderen Lager nach Moosburg überführt wurden, kam Pfarrer Wittmann und konnte unsere Lagergemeinde übernehmen. Selten wohl im Leben wohnten Schmerz und Freude so dicht beisammen, wie in dem Augenblick, als Abschied genommen werden mußte. Neben der übergroßen Freude, daß einem endlich die Freiheit geschenkt wurde und man diesen Ort körperlichen Leidens endlich verlassen durfte, war es der Abschied von so vielen liebgewordenen Menschen, der einem sehr schwer wurde. Rührende Zeichen der Dankbarkeit kamen in den Geschenken zum Ausdruck, die mir mitgegeben wurden. Das wertvollste Geschenk war das Neue Testament der Stuttgarter Jubiläumsausgabe, das der Pfarrer in Freising vor Jahresfrist dem Lagerpfarrer geschickt hatte, das Testament, aus dem die Predigten und Andachten gehalten worden waren, dieses Buch durfte ich mitnehmen!



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