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Internierungslager: Die Evangelische Lagergemeinde


Inhalt

Quelle:
Klaus von Eickstedt: Christus unter Internierten. Neuendettelsau: Freimund-Verlag 1948.

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des © Freimund-Verlags.

Christus unter Internierten

von Dr. Klaus von Eickstedt

Arbeitsgemeinschaften

Diese klare These wurde das Fundament einer Arbeit im Lager, die weithin auch außerhalb des Lagers Beachtung gefunden hat. Es handelte sich um folgendes: Unser Lagerpfarrer Rott hatte einen neuen Vortragszyklus begonnen, dem er die Überschrift gab „Christliche Sozialethik im Spiegel der 10 Gebote". Bei der Durchführung dieser breit angelegten Vortragsplanung stellte es sich als zweckdienlich heraus, sich für die einzelnen Vorträge Material aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens aus der Gemeinde heraus bereitstellen zu lassen. Das konnte geschehen, weil innerhalb der Gemeinde genügend Sachverständige für alle Gebiete zur Hand waren, so daß es möglich war, Probleme der Politik und Wirtschaft, der Technik und Soziologie, Frage des Eigentums, des Sozialismus und Kapitalismus, des Verhältnisses von Staat und Kirche und viele andere mehr, vom Worte Gottes aus zu durchleuchten und zu bearbeiten. So kam es zur Bildung einer „Arbeitsgemeinschaft für christliche Sozialethik", die systematisch und methodisch alle Lebensbereiche von der christlichen Heilswahrheit aus zu durchdenken sich anschickte. Die Leitung dieser Arbeitsgemeinschaft übernahm Ministerialrat Wolff, ehemals ein Glied der Dahlemer Bekenntnisgemeinde; Wolff gehörte auch zu jenen irrtümlich Internierten, und mußte, obwohl er nicht Parteigenosse gewesen, sondern vielmehr von der Partei gemaßregelt worden war, trotzdem ein Jahr hinter Stacheldraht verbringen, weil er „Ministerialrat" gewesen war. Die Arbeitsgemeinschaft für christliche Sozialethik entwickelte eine rege Tätigkeit. Je nachdem, welches Gebiet oder Thema von der Arbeitsgemeinschaft in Bearbeitung genommen wurde, traten aus dem Kreise der Gemeindemitglieder Juristen, Nationalökonomen, Verwaltungsbeamte, Journalisten, Pädagogen, Wirtschaftsführer, Ärzte, u.a.m. zusammen. Die von dem jeweiligen Referenten und Korreferenten gehaltenen Referate wurden in mehrstündigen Sitzungen durchberaten und das Ergebnis der Beratung dann schriftlich formuliert. So entstanden im Lager folgende Arbeiten:

  • Dr. Bergengruen: Kirche und Wirtschaft
  • Min.-Dir. Dr. Frank: Probleme der Bekenntnis- und Gemeinschaftsschule
  • Dr. von Eickstedt: Der ständische Gedanke
  • Dr. Malbeck: Kirche und Presse
  • Dr. Hermann: Kirche und Wissenschaft

Bei der Behandlung des letzten Themas wurden, um sich von vorneherein eine gewisse Beschränkung aufzuerlegen, bestimmte Diskussionsfragen zugrunde gelegt. Sie lauteten:

  1. a) Ist die Theologie eine Wissenschaft wie jede andere, inwiefern, inwiefern nicht?
    b) Ist die Theologie allein eine Ordnerin oder auch Ergänzerin der offenbarten Heilswahrheiten?
  2. Inwiefern spielen für die nichttheologische, säkulare Wissenschaft nichtrationale Momente eine wesentliche Rolle?
  3. Inwieweit kann die Kirche die heutige „Demutssituation“ der Wissenschaft, d.h. die Selbsterkenntnis ihrer Bedingt- und Begrenztheit für das Glaubensleben auswerten?
  4. Inwieweit ist eine Einrichtung zu schaffen, die alle wissenschaftlichen Vorgänge und Bewegungen beobachtet und im christlichen Sinne nicht nur negativ, sondern positiv bewertet?
  5. Inwiefern kann eine studentische und akademische Seelsorge und Missionsarbeit der Forderung des christlichen Einflusses auf die Wissenschaftslehren dienen?

Folgende Antworten auf diese Diskussionsfragen wurden alsdann nach ausgiebiger Beratung formuliert:

Zu 1.a) Die Theologie ist insofern keine Wissenschaft wie jede andere, als sie den Gegenstand ihrer Arbeit und ihre Bausteine einem Bereich entnimmt, der wissenschaftlich-rationalen Methoden nicht zugänglich ist; jedoch wendet die Theologie bei der Dienstbarmachung der geoffenbarten Glaubenswahrheiten für den weltlichen Bereich wissenschaftlich-rationale Methoden wie jede andere Wissenschaft an.

Zu 1.b) Die Theologie ist Ordnerin der Glaubenswahrheiten, Ergänzerin der offenbarten Heilswahrheiten jedoch nur insoweit, als sie diese entfalten hilft, ohne selbst neue zu schaffen.

Zu 2. Für die nichttheologische Wissenschaft spielen bei der Gewinnung von Forschungsergebnissen außer-rationale Elemente, wie Intuition, Meditation, Glauben an Sachverhalte usw. eine bedeutende Rolle. Diese für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse systematisch fruchtbar zu machen, ist kaum möglich, da sie subjektiv bedingt sind und von der individuell seelischen Verfassung jedes einzelnen Wissenschaftlers abhängen.

Zu 3. Die Kirche hat die Aufgabe, die gegenwärtige „Demutssituation“ der Wissenschaft für eine Vertiefung des Glaubenslebens in der Weise auszuwerten, daß sie

a) laufend alle Äußerungen der Wissenschaft, die ihre Begrenztheit und Bedingtheit zum Ausdruck bringen, sammelt und den Organen der christlichen Kirchen zugänglich macht,
b) in ihrer Seelsorge sich nicht propagandistisch, sondern, wenn überhaupt, dann nur rein sachlich mit anderen Wissenschaften auseinandersetzt und
c) dementsprechend alle Äußerungen von Mißtrauen oder von vornherein abwertende Urteile hinsichtlich der Wissenschaft als solche unterläßt.
d) Die Kirche hat ein Interesse daran, daß wissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht in vorschneller und unsachgemäßer Weise (z.B. Radio, Presse) mit weltanschaulicher Tendenz in breite Volkskreise getragen werden, ehe nicht auf geistiger Ebene die Auseinandersetzung ausgereift ist.

Zu 4. Die Kirche sollte tunlichst für jedes wissenschaftliche Gebiet einen namhaften christlichen Forscher gewinnen, der den Ertrag der Forschung auf seinem Gebiet sammelt und ihn in seiner Beziehung zur christlichen Lehre durchdenkt. Das Ergebnis ist laufend an die Kirchenleitung zu berichten. Diese wiederum soll für weitgehende Auswertung für ihren Verkündigungs- und Lehrbereich mit Hilfe von Veröffentlichungen, Tagungen und Ähnlichem Sorge tragen. Zur Bewältigung und Förderung sollte seitens der Kirchenleitung durch eine enge Verbindung der theologischen Fakultäten mit den anderen Fachdisziplinen alles Material, vor allem Literatur usw. den Sachbearbeitern zugestellt werden. Es wäre wünschenswert, daß die evangelischen Wissenschaftsorganisationen mit den entsprechenden der katholischen Kirche zum Zwecke besserer Rationalität und gegenseitigen Verständnisses auf diesen Gebieten in arbeitsteiliger Verbindung bleiben. Es ist ferner anzustreben, daß im Bereich der einzelnen Gemeinden, wo geeignete Persönlichkeiten vorhanden sind, örtliche Arbeitskreise christlicher Akademiker gebildet werden, mit dem Ziele, durch gegenseitige Aussprachen Wissenschaftsfragen im christlichen Sinne zu klären.

Zu 5. Ein besonderes Anliegen der Kirche sollte eine akademische Seelsorge und Missionsarbeit sein, die es sich zum Ziel setzt, die Heilsbotschaft des Evangeliums in diejenigen Kreise zu tragen und sie ihnen zu festigen, die einmal zur geistigen Führung berufen, in besonders hohem Maße der Gefahr ausgesetzt sind, durch rationalwissenschaftliches Arbeiten mit der Sonde menschlicher Kritik in die Bereiche einzudringen, die auf diesem Wege überhaupt nicht zugänglich sind. Solche Seelsorge und Mission mit Aussicht auf Erfolg treiben zu können, setzt voraus, daß die Kirche ihre Glaubenswahrheiten stets von neuem in Beziehung zum modernen Weltbild und den neuesten Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung setzt. Bei allen geistigen Auseinandersetzungen innerhalb dieses Missionsbereiches müssen die hierin Tätigen eine völlige Bewältigung der einschlägigen Wissenschaften auf höchstem Niveau erkennen lassen.

Die Ergebnisse dieser Beratungen wurden in Form von Denkschriften an der „Rat der evangelischen Kirche in Deutschland“ und an die Ev.-luth. Landeskirche Bayerns gesandt. Das Anschreiben, mit dem die erste Denkschrift in dieser Weise überreicht wurde, faßt noch einmal die Grundgedanken, die zur Bildung dieser sozial-ethischen Arbeitsgemeinschaft geführt hatten, zusammen. Das Schreiben lautete folgendermaßen:

„Evangelische Lagergemeinde
Arbeitsgemeinschaft für christliche Sozialethik

Moosburg, den 15. April 1946

1. An den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland,
z. Hd. des Herrn Landesbischofs D. Wurm, Stuttgart.
2. An den Ev.-luth. Landeskirchenrat,
z. Hd. des Herrn Landesbischofs D. Meiser, München

Nach dem Zusammenbruch des Reiches und der Länder erwächst dem deutschen Volk und seinen Stämmen eine Chance, sich im Neuaufbau von Staat, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft noch einmal vor der Weltgeschichte zu bewähren. Wenn diese Aufgabe in Angriff genommen wird, kann und darf die Kirche nicht beiseite stehen. Hat sie doch wirksamer und entschiedener, als das bisher je versucht, geschweige denn gelungen ist, nunmehr auf allen Lebensgebieten die Gebote Gottes zur Geltung zu bringen, wie sie uns von dem Herrn Jesus Christus durch Sein Wort und das Beispiel Seines Lebens und Sterbens neu gelehrt worden sind.

„Jesus Christus .... ist .... Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ und es gibt keine „Bereiche in unserem Leben, in denen wir nicht Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir der Heiligung und Rechtfertigung durch Christus nicht bedürften.“ In diesen Sätzen der Zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung liegt nicht nur das Recht, sondern mehr noch die Pflicht der Kirche begründet, das Ihrige zu tun, auf daß alle Lebensgebiete nach dem Worte Gottes geordnet und in ihnen die absolute Herrschaft Gottes wieder aufgerichtet werde.

Somit gilt es, schon jetzt die verschiedenen Lebensgebiete gleichsam abzutasten und abzuhorchen, ihre innere und besondere Gesetzlichkeit, ihre „technische Autonomie“ zu erkennen zu suchen, alsdann aber die entscheidende Frage zu stellen, ob und inwieweit jedes dieser Lebensgebiete auch von Normen beherrscht sein muß, die einer höheren, alle Lebensgebiete gleichsam umfassenden Ordnung entstammen. Mit anderen Worten: Es ist alsdann zu fragen, wie jedes dieser Lebensgebiete in die natürliche Ordnung einzufügen sei, die dem in Jesus Christus und Seiner Lehre geoffenbarten Willen Gottes entspricht. Die Prüfung und Beantwortung dieser Frage hat die Kirche alsbald vorzubereiten, wenn anders sie nicht darauf verzichten will, sich in Erfüllung ihres Auftrages, den Willen Gottes zu vertreten, rechtzeitig bei den weltlichen Instanzen, denen die Arbeit an dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Neuaufbau anvertraut ist, Gehör zu verschaffen. Es kommt also insbesondere darauf an, daß die Kirche zu gegebener Zeit über ein genügendes, aus wissenschaftlicher und praktischer Forschung gewonnenes Material verfügt, das sie in den Stand setzt, spontan oder ausdrücklich aufgerufen zur Mitarbeit, ihr christliches Anliegen bei der gerade aktuellen Neuordnung eines Lebensgebietes geltend zu machen.

Bei der Sammlung solchen Materials den Kirchenleitungen nach Kräften zu helfen, sollte, so glauben wir, die selbstverständliche Pflicht jeder Gemeinde, ja jedes Gemeindemitgliedes sein. In Erkenntnis dieser Pflicht, angetrieben aber auch durch die Wirkungen, die von Vorträgen unseres Pfarrers W. Rott über „Christliche Sozialethik im Spiegel der 10 Gebote“ ausgegangen sind, hat die Evangelische Gemeinde des Internierungslagers Moosburg eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, die sich die Aufgabe gestellt hat, eben zu jener Materialsammlung beizutragen. Wir sind der Meinung, daß wir die erzwungene Muße unserer Gefangenschaft, die uns vorläufig von jeder aktiven Mitarbeit am Wiederaufbau des deutschen Staats- und Wirtschaftslebens ausschließt, nicht besser benutzen können, als damit, daß wir beginnen, wenigstens theoretisch zu untersuchen, auf welchen Gebieten die Kirche ihr Recht auf Einrede anzumelden und welche Forderungen sie gegebenenfalls zu erheben haben wird, um die in Frage stehende Ordnung möglichst vollkommen mit den Grundsätzen der christlichen Ethik in Einklang zu bringen.

Wir sind an diese Arbeit herangegangen, ohne uns an ein eigentlich systematisches Programm zu halten. Freilich steht uns ein solches ständig vor Augen. Aber wir wollten uns einstweilen damit bescheiden, daß wir nach einer mehr zufälligen Reihenfolge Fragen behandeln, die wir in ihrer Wesenheit und Tragweite allein mit den uns hier zur Verfügung stehenden Kenntnissen und Erfahrungen zu überschauen vermögen. Allmählich wird sich dann auch daraus, so hoffen wir, ein Gefüge ergeben, zumal wenn es uns vergönnt sein sollte, unser Vorhaben später in Freiheit und unter günstigeren Bedingungen, besonders mit der Möglichkeit der Einsichtnahme in die jeweils einschlägige Literatur und in Verbindung mit der Wissenschaft fortzuführen.

Der Arbeitsgemeinschaft gehören Vertreter der verschiedensten Berufe an. Eine Liste der derzeitigen Mitglieder ist beigefügt. Besprechungen wegen Erweiterung unserer Vereinigung zu einem interkonfessionellen Arbeitskreis durch Zusammenschluß mit einer hier bereits bestehenden Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Lagergemeinde sind im Gange.

Mit der Leitung unserer Arbeitsgemeinschaft ist der Unterzeichnete beauftragt worden. Er setzt unter Berücksichtigung der aus dem Kreise der Mitglieder gegebenen Anregungen und gemachten Anerbieten zur Übernahme von Referaten, jeweils das Gesprächsthema für die allwöchentliche Zusammenkunft der Arbeitsgemeinschaft fest. An den Vortrag des Referats schließt sich regelmäßig eine eingehende Aussprache. Das auf Grund von Referat und Aussprache Erarbeitete wird dann schriftlich niedergelegt. Die dergestalt entstandenen Schriftstücke werden laufend dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Leitung der Bayerischen Ev. Landeskirche übersandt werden.

gez. Wolff.“

Innerhalb der Lagergemeinde bildeten sich noch andere Arbeitsgemeinschaften, von denen an erster Stelle die „Religionspädagogische Arbeitsgemeinschaft“ Erwähnung verdient. Unter Leitung des Lagerpfarrers wurden aus dem Kreise der Lehrer Religionslehrer und solche, die später Religionsunterricht mit als Lehrfach übernehmen wollten und auch sonst kathechetisch interessierte Laien zusammengefaßt. Es wurde vornehmlich der kirchliche Katechumat (Einheit und Zweige des kirchlichen Unterrichts), ferner Themen wie: „Kirche in der Schule“, „Die geistige Lage des Volksschullehrers und Dorfpfarrers“, „Von der Exegese zur Katechese“. In einer freimütigen und offenen Aussprache konnte viel von dem Schutt weggeräumt werden, der im Laufe der letzten 12 Jahre zwischen Lehrerschaft und Kirche, zwischen Lehrer und Pfarrer aufgehäuft war. Nach unseren Erfahrungen im Lager wäre es sehr zu wünschen, wenn draußen in allen Kirchenkreisen solche religionspädagogischen Arbeitsgemeinschaften zu einer ständigen Einrichtung würden.

In einer „religions-philosophischen Arbeitsgemeinschaft“ („Una sancta“ = Arbeitsgemeinschaft) wurde der Versuch unternommen, gebildete Katholiken und Protestanten an einen Tisch zu bringen und über christliche Grundfragen unter bewußter Herausstellung des beiden Gemeinsamen, zu diskutieren. Diese Arbeitsgemeinschaft, die ein älterer, von allen wegen seiner Güte und Weite hochgeschätzter ehemaliger Benediktinerpater, der als „Archivrat“ interniert war, leitete, behandelte die Themen: „Die Kirche als corpus Christi mysticum“, „Das Vaterunser“, und „Einführung in die Religionsphilosophie von Nicolai Berdjajew“. Wir bedauerten sehr, als diese Arbeitsgemeinschaft sich auflöste, weil die katholischen Mitchristen fortblieben, nachdem sie von der Leitung ihrer Gemeinde einen „Wink“ bekommen hatten, sich an einer solchen Arbeitsgemeinschaft tunlichst nicht mehr zu beteiligen. Dieser Vorgang tat jedoch dem guten Verhältnis zwischen katholischen und evangelischen Christen und dem guten Verhältnis zwischen beiden Lagergemeinden keinen Abbruch. Hinsichtlich dieses Verhältnisses möge auf folgendes hingewiesen werden: In den ersten Monaten traf man bei gebildeten Protestanten vielfach auf katholisierende Neigungen. Es wirkte auf sie die schöne Form des Gottesdienstes, die straffe Menschenführung, die klare Hierarchie der Amtsträger, nicht zuletzt die politische Macht der Kirche, die auch dort im Lager sichtbar wurde. Je stärker jedoch die evangelische Lagergemeinde in Erscheinung trat, je intensiver innerhalb unserer Lagergemeinde die Bibelarbeit, die Glaubenslehre, die Volksmission betrieben wurde und in Verfolgung dieser Arbeit die Güter und Gaben, die die Reformation der evangelischen Kirche neu dargereicht hatte, erkannt und entdeckt wurden, um so stärker bildete sich ein „evangelisches Bewußtsein“ und dementsprechend ein umso schärferer Blick auch für die Schwächen des römisch-katholischen Kirchentums. Aber immerhin, die Lagersituation brachte es ohnehin mit sich, daß sich die Christen aller Bekenntnisse als eine Front fühlten und aneinander rückten. So wurden fast alle Aktionen, die sich gegen irgendwelche Maßnahmen der amerikanischen oder deutschen Lagerleitung richteten (z.B. eine Eingabe wegen der Sonntagsheiligung) von beiden Gemeinden gemeinsam unternommen. Die ernsten Christen beider Konfessionen, besonders die gebildeten, förderten, wo sie konnten, die zwischenkirchliche Verständigung, und so kam es in manchen Baracken zu einem herzlichen Einverständnis und engen Kontakt. So arbeiteten die Lagerpfarrer beider Konfessionen unter einer gewissen, für den konfessionellen Frieden heilsamen Laienkontrolle und es wäre nur zu wünschen, daß es überall so wäre, daß auf dem letztlich nicht von Menschen, sondern von Gott zu wirkenden, aber von Menschen zu ebnenden Wege zu einer „heiligen allgemeinen christlichen Kirche“ jede diesem Ziel dienende Annäherung gepflegt und erbeten würde. Die „Una sancta“ Frage war im Lager keineswegs nur eine Gefühls- und Stimmungssache oder nur von praktischen Erwägungen her bestimmt. Man mühte sich schon ernsthaft darum, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Der gegenseitige Besuch der gottesdienstlichen Predigten und Vorträge brachte manchem Klärung und Vertiefung seines vorher meist recht oberflächlichen Urteils über die andere Konfession und förderte bei entschiedenem Festhalten an Glaubensüberzeugung und Lehre die Weite des Herzens und des Denkens. Auch die Katholiken hatten mancherlei an unserem gottesdienstlichen Leben auszusetzen, und wir hörten durchaus aufmerksam zu, wenn unsere katholischen Brüder neben uneingeschränkter Anerkennung z.B. unserer Bibelarbeit und des Choralgesangs, unserer Vortragstätigkeit, unserer Arbeitsgemeinschaften, der größeren Andacht und Sammlung bei unseren Abendmahlsfeiern, der brüderliche freien Form unserer Beichte, dann aber auch als Mängel unseres „evangelischen Systems“ die Abhängigkeit unserer Gemeindearbeit und die Gottesdienste von dem Können und der Begabung des jeweiligen Pfarrers, den Mangel an fester pädagogischer Führung des „Kirchenvolkes“, die Unsichtbarkeit der evangelischen Kirchenleitung, die Uneinigkeit unter den protestantischen Richtungen kritisieren zu müssen glaubten.

Im Lager befanden sich noch etwa 25 griechisch-orthodoxe Christen. Die geistige Verbindung mit ihnen war eng. Unser brüderliches Verhalten zu ihnen entsprang nicht zuletzt der Tatsache, daß die meisten dieser Männer, denen die Auslieferung an die Russen ständig als Damoklesschwert über dem Haupte hing, als „Todgeweihte“ anzusprechen waren. Nach vorheriger Aussprache hielten sie sich zum evangelischen Abendmahl, und ihre russische Weihnachtsfeier wurde durch eine Andacht des evangelischen Lagerpfarrers eingeleitet. Ihre geistlichen Gesänge waren ergreifend. Nach dieser gemeinsamen Feier sagte ein russischer Dostojewski-Interpret: „So stellen wir uns die Wiedervereinigung der Kirchen vor.“ Dies war wirkliche Oekumene hinter Stacheldraht, vielleicht ein schwacher Abglanz kommender Dinge, der in unsere Lagereinsamkeit fiel.



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